Mit dem kommenden 21.3. kreisen meine Gedanken wieder vermehrt um die Frage, was es wirklich bedeutet, einen Menschen mit einer Beeinträchtigung nah zu begleiten.
Brücke
Sicher bin ich mir, dass es für mich keine Last, sondern eine Bereicherung darstellt. Gleich darauf höre ich, wie die inneren Kritiker ihre Stimmen erheben, um entgegenzuhalten: „Redest du es dir
das Ganze nicht einfach schön? Du lebst doch in einer Welt, in der sich alles nur um das Thema Beeinträchtigung dreht, abgeschottet von der Wirklichkeit anderer Menschen. So sind deine
Erfahrungen und Überlegungen doch kaum relevant für sie. Wie sieht denn diese Bereicherung überhaupt genau aus
Grundwerte
Gehen wir voller Mitgefühl auf andere zu, setzen wir der Einsamkeit ein Ende. Wie reich und mächtig wir auch sein mögen, ohne Mitgefühl erfahren
wir keinen inneren Frieden....Die Lieb und das Mitgefühl sind die Grundlagen für den Weltfrieden." Dalai Lama
Das Thema Beeinträchtigung ist für mich stark eingebettet in einen grösseren Rahmen: den des
Mitgefühls. Mitgefühl zu entwickeln gehört für mich zum Wichtigsten im Leben überhaupt. Es gibt unserem Leben Sinn und Richtung. Mitgefühl fordert mich auf, offen, neugierig und empathisch auf
den Anderen zuzugehen - vor allem, je fremder er mir erscheint. Mitgefühl befähigt micht mit den Augen des Anderen zu sehen und mit seinem Herzen zu fühlen. Ein Gefühl, frei von süsslichem
Mitleid, das den anderen schwächt, sondern erfüllt von authentischer Anteilnahme.
Eine neue, alte Form der Kommunikation
Begegnen wir jemanden mit einer Beeinträchtigung, sehen wir uns vielleicht einem Menschen gegenüber, dessen verbale Fähigkeit eingeschränkt sind.
Seine/ihre Sätze sind schwer verständlich, kommen verzögert; die Antworten, überraschend, fallen aus dem Rahmen. Die Gesten, brüsk, unsanft, können uns brüskieren. Im ersten Moment
erscheint die Distanz, die uns trennt, unüberwindlich, so fremd ist der Andere mir.
Gibt es eine Ebene, auf der Austausch möglich ist? Wie erreichen wir eine gemeinsame Sprache?
Treffe ich auf Fremdes, sind wir eingeladen, aus unserem Innern heraus weit zu werden. Neue Wege der Begegnung müssen aufgetan werden.
Wie sagt der kleine Prinz so schön? „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Unser Austausch, in ganz kurzen Worten oder sogar non-verbal, greift zurück auf eine ursprüngliche Sprache. Wir beherrschen
sie alle, setzen sie jedoch selten ein. Nicht Worte sind es, die wir teilen, sondern wir teilen einen gemeinsam erlebten Moment und gemeinsame Emotionen. Mit unseren inneren Augen nehmen wir
wahr, wie sich der Raum, in dem wir uns zusammen befinden, erwärmt, vergrössert und belebt. Berührt und oftmals bereichert können wir danach in unseren schnellen Alltag zurückkehren, nur um zu
erleben, wie wir uns bemühen, allen Menschen mit dieser absolut zugewandten Offenheit zu begegnen.
Ja sagen zu dem was ist
Eine Beeinträchtigung ist eine Beeinträchtigung ist eine Beeinträchtigung…sie verschwindet nicht. Nicht, wenn
ich Hunderte von verschiedenen Fördermethoden anwende, nicht, wenn ich es mir mit aller Kraft wünsche, nicht, wenn ich sie ablehne, überhöhe oder verneine. Ein Leben mit einer Beeinträchtigung
ist ein Leben mit einem ganz eigenen Ausdruck, einer ganz eigenen Gestaltung. Räume und Kontaktmöglichkeiten mit anderen zu schaffen kann kräftezehrend sein. Es braucht Geduld, viele Erklärungen
und den Willen, täglich weiterzumachen. Dieses einzigartige Leben kann nur erblühen, wenn wir es rückhaltlos bejahen. Bejahe, was ist, die Hürden, die Zärtlichkeit, das Wachsen in eigener Form
und mit eigenem Rhythmus - dieser ganz besondere Weg. Leben zeigt sich uns hier in einer Vielfalt, die alle vorgefassten Meinungen sprengt.
Andere Lebensentwürfe abzulehnen wird immer schwieriger: zu stark das Bewusstsein, dass jedes Leben seine eigene Form der Entfaltung finden darf.
Gemeinsam lernen
Wären wir alle gemeinsam in einer Schule, würde auf der Türe meines Klassenzimmers „Beeinträchtigung“ stehen. Dies ist mein Lernfeld, an dem ich
meine Fertigkeiten schärfen und erproben kann. Daneben öffnen sich viele andere Türen, jede mit einem anderen Schild: „Macht“, steht auf der einen, „Trauer“, „Hartnäckigkeit“, „Grossfamilie“,
„viel Arbeit“, „Erfolg“….so viele verschiedene Aufgaben. Sicher sassen wir auch schon in einem anderen Klassenzimmer und werden auch wieder das Zimmer wechseln. Das Lernen wird unterbrochen durch
die Pausenglocke. Sie ermöglicht uns Gespräche und Austausch auf dem Pausenplatz. Dort können wir unseren KameradInnen zuhören, miterleben, wie es ihnen mit ihrem Thema geht. Es ist ein
lehrreicher Austausch für uns alle. Was wir in den verschiedenen Klassenzimmern lernen, geht uns alle etwas an, denn alle Themen sind von gleicher Bedeutung. Im Austausch begleiten, fördern und
bereichern wir uns gegenseitig.
Persönlich hoffe ich auf viele wiederkehrende Pausen!
PS: dies ist nur meine Sicht als Mutter und Mensch, der ohne sichtbare Beeinträchtigung lebt. Komplett wird das Thema erst in der Begegnung und Auseinandersetzung mit besonderen Menschen, die das
Thema von innen heraus kennen.
Fremd oder nah?
How do you see me?
https://www.youtube.com/watch?v=YhCEoL1pics
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